Die nur an Waldorfschulen unterrichtete Eurythmie ist eine Bewegungskunst, die Sprache und Musik an der menschlichen Gestalt durch Gebärden und räumliche Bewegung sichtbar machen will. Das erfordert von den Schülern ein bewusstes Sich-Einhören in Laute, Wörter und Töne. Soweit aber in der Musik und in der Dichtung etwas vom Wesen der Welt „zur Sprache kommt“, führt diese Steigerung des (ästhetischen) Empfindens zu einem vertieften Verständnis von der Welt. Damit führt die Eurythmie den Menschen bis in seine Bewegungen hinein zu einem neuen, erweiterten Erlebnis von der Welt.

Eurythmie, wie sie entstanden ist, was sie ist und warum sie gut ist!
Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert geraten alle überkommende Werte und Begriffe ins Wanken. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielschichtig. Zum einen gerät durch neue Erkenntnisse der Physik der Glaube an die Erklärbarkeit der Welt verloren. Hinzu kommt die Veränderung der gesellschaftlichen Lebensform in den Großstädten. Diese Erschütterungen spiegeln sich auch in den Künsten, es geht ein Zerbröckeln der (künstlerischen) Traditionen einher. Es erfolgt eine gewaltige Umorientierung und Veränderung in allen Kunstgattungen…
…In dieser Situation sahen sich die Künstler aufgerufen ihr eigenes Selbstverständnis und die Rolle der Kunst neu zu definieren (z.B. das Suchen nach der „reinen“Farbe, dem „absoluten“ Ton etc.).Farben wurden geschmeckt, getastet und gehört. Der Musiker A. Scriabin entwickelte ein farbiges Klavier (C Rot, G Orange, D Gelb, A Grün, Fis Blau, grell, Des Violett, As Purpur, Es stahlartig mit Metallglanz). Gefordert wurde allgemein eine Sensibilisierung der Sinne. Die Eurythmie entstand um 1912, als Versuch den Gedanken des Gesamtkunstwerkes zu verwirklichen. Zum einen geht es ihr um die Darstellung von Sinneseindrücken (der Musik und der Sprache, in Rhythmus und Klang). In dieser Hinsicht ist sie eine impressionistische Kunst. Ebenso ist die Eurythmie eine expressionistische Kunst, da sie nach dem Umsetzen eines innerlich Erlebten in äußerlich Sichtbares strebt. In Zusammenwirken von Sprache und Musik, Eurythmie (Bewegung, Farbe, Form, Plastik), von impressionistischen und expressionistischen Elementen, haben wir es mit einem modernen Gesamtkunstwerk zu tun.
Durch Untersuchungen des Amerikaners W. Condon weiß man, dass beim Sprechen und beim Hören von Sprache Finger, Hände, Arme, Schultern und der Kopf bewegt werden. Diese Bewegungen sind allerdings so gering, dass sie erst durch eine verfeinerte Untersuchungstechnik entdeckt werden konnten. Sprechen ist also ein Vorgang, der den ganzen Menschen umfassend ergreift und Sprache trägt somit die Tendenz zur Bewegung in sich. Als ihre volle Verwirklichung kann die Eurythmie betrachtet werden. Eurythmische Gebärden sind nicht Zeichen für Laute und Wörter, sondern die Laute und Worte selbst. Eurythmie ist somit nichts willkürlich Ausgedachtes, sondern basiert auf einer Gesetzmäßigkeit, die in jedem Menschen veranlagt ist. Rundende, Rollende R in Rad, Reifen, Ring, rollen….., in Du, dort, da, Ding, Drücken, findet man das Deutende, Drückende des D, welches sich im T noch stärker bis zu einem Einschlag zusammenzieht (Tat, Tor,Turm,Kraft). Mit den Vokalen gibt der Mensch innerlich Erlebtem Ausdruck und durch sie erhält die Sprache ihren Klang. Wenn man z.B. ein A als Interjektion ausspricht (ah, ach, aha…), dann liegt diesem Ausruf ein bestimmtes Erleben zu Grunde. Beobachtet man nun die Bewegungen des Kehlkopfes und seiner Nachbarorgane bis hin zum Rachenraum und spürt der ausgestoßenen Luftform nach, so findet man in Allem die Tendenz des Sich-Öffnens. Die Übertragung der Bewegung des Kehlkopfes führt zu einem Öffnen der Arme in der eurythmischen Gebärde.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Die eurythmischen Bewegungen, die ein einzelner Mensch oder eine Gruppe im Raum ausführt, sind ein Sichtbarmachen dessen, was in der Sprache und der Musik lebt. In der Eurythmie ist der Mensch selbst das Material. Der ganze Mensch soll hier Instrument und Ausdrucksmittel werden.
Waldorfpädagogik hat es sich in verstärktem Maße zum Ziel gesetzt, die individuelle Persönlichkeit der Heranwachsenden zur Entfaltung zu bringen. Dabei soll der Blick auf den „ganzen“ Menschen, d.h. auf alle seine Potentiale und Persönlichkeitsanteile gerichtet sein. So haben neben den kognitiven (verstandesbetonten) Unterrichtsfächern, vor allem künstlerische Fächer einen hohen Stellenwert, da man davon ausgeht, dass ein Mensch seine Persönlichkeit am umfassendsten entfalten kann, wenn er seine Fähigkeiten in sämtlichen Bereichen ausprobieren kann. Kreativität und Fantasie sind gefragt, Eigenschaften, die übrigens zunehmend in vielen Bereichen der Wirtschaft und Politik gefordert werden. Letztendlich liegt aller Kreativität die Fähigkeit zur Grunde, die eigene innere Gefühlslage in einer entsprechenden Form zum Ausdruck zu bringen. Dies geschieht vor allen Dingen in der Kunst. Beim Eurythmiemachen wird das innerlich Erlebte durch eine äußerlich sichtbare Gebärde zum Ausdruck gebracht. In dieser Hinsicht bietet die Eurythmie, wie jede Kunst, die Möglichkeit zu einem intensiven Kennenlernen der eigenen Persönlichkeit.
Hinzu kommt noch eine soziale Komponente: Da viele Gruppenformen eine starke Konzentration auf die Gemeinschaft, das Miteinander verlangen, werden soziale Fähigkeiten gefördert und kultiviert.
Eva-Maria Artischewski
Freie Waldorfschule Hamm
2016